Der Gothaer
Vereinigungsparteitag 1875,
das Gothaer Programm und
die Kritik von Marx

(leicht erklärt)

Was davor geschah:

Die Arbeiterschaft verdiente wenig Geld, arbeitete lang und konnte sich kaum den Lebensunterhalt leisten. Und organisierte sich …

Bild: Borsigs Eisengießerei (Archiv Gothaer Tivoli)

Schwere Zeiten

Ab der Reichsgründung 1871 waren alle Strömungen der Arbeiterbewegung der Verfolgung ausgesetzt. Reichskanzler Otto von Bismarck unterdrückte die Arbeiterbewegung, weil sie die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse wollte.

1873 setzte eine Wirtschaftskrise ein, welche die Not der Arbeiter*innen verschärfte.

Bild: Berliner Proletarierwohnung Mitte 19. Jh. (Archiv Gothaer Tivoli)

Es gab zwei Richtungen der Arbeiterbewegung:

ADAV

  • Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein
  • gegründet 1863 in Leipzig
  • Vorsitzender: Ferdinand Lassalle (er stirbt 1864), ab 1875 Wilhelm Hasenclever
  • Organisation stark an der Persönlichkeit Lassalles orientiert
  • Ziele: soziale Gerechtigkeit, durch Staatseingriff, soziale Reformen, dabei führende Rolle Preußens
Ferdinand Lassalle

Quelle: Wikicommons, Link

Wilhelm Hasenclever

Quelle: Wikicommons, Link

SDAP

  • Sozialdemokratische Arbeiterpartei
  • gegründet 1869 in Eisenach
  • Vorsitzende: Wilhelm Liebknecht und August Bebel
  • Ziele: Errichtung eines freien Volksstaates, Überwindung der bestehenden Produktionsverhältnisse, das Erreichen der sozialistischen Ideale durch internationale Zusammenarbeit
Wilhelm Liebknecht

Quelle: Wikicommons, Link

August Bebel

Quelle: Wikicommons, Link

Warum vereinigten sich die Lassalleaner (ADAV) und die Eisenacher (SDAP)?

Gemeinsam sind wir stark! Und können die Gesellschaft verändern!

Postkarte „Mann der Arbeit“

Quelle: Wikicommons, Link

Warum Gotha als Treffpunkt?

Gotha lag zentral. Außerdem war das Vereins- und Versammlungsrecht liberaler und ließ, anders als in Preußen, Meinungsfreiheit in einem gewissen Rahmen zu.

Bild: Das Gothaer Tivoli um 1900 (Archiv Gothaer Tivoli)

Gemälde „Gothaer Vereinigungsparteitag von 1875“ von Leopold Eichhorn, 1953

Sammlung Gothaer Tivoli, Foto: Andreas Kubitza

Der Vereinigungsparteitag

Vom 22. bis 27. Mai 1875 trafen sich im Saal des Gothaer Tivoli 74 Delegierte des ADAV und 56 Delegierte der SDAP und gründeten die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), die spätere SPD.

15.322 Mitglieder des ADAV plus 9.121 Mitglieder der SDAP gleich 24.443 Mitglieder der neuen SAP.

August Geib

Quelle: Wikicommons, Link

Wilhelm Hasenclever

Quelle: Wikicommons, Link

Wilhelm Liebknecht

Quelle: Wikicommons, Link

Das
gemeinsame
„Gothaer Programm“

I

Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht ab 20 Jahre.

Der Wahl- oder Abstimmungstag muss ein Sonn- oder Feiertag sein.

Festzeitung „Hoch das freie Wahlrecht“

Quelle: Wikicommons, Link

II

Direkte Gesetzgebung durch das Volk.

Wiener Arbeiterbildungsverein

Quelle: Archiv Gothaer Tivoli

III

Das Volk entscheidet über Krieg und Frieden.

Demonstration auf dem Gothaer Hauptmarkt

Quelle: Bildersammlung LATh-StA Gotha

IV

Volkswehr statt stehendes Heer.

Im stehenden Heer der Kaiserzeit waren alle höheren Ränge durch Adel und Bürgertum besetzt. Die Volkswehr sollte in allen Hierarchieebenen alle Bevölkerungsgruppen widerspiegeln.

Quelle: DonnaSenzaFiato/Pixabay, Link

V

Abschaffung aller Gesetze, die die freie Meinungsäußerung, das freie Denken und Forschen beschränken.

Ausschnitt Flugblatt „Wissen ist Macht“

Quelle: LATh-StA Gotha, Regierung Erfurt Nr. 497

VI

Rechtsprechung durch das Volk und unentgeltliche Rechtspflege.

Quelle: Ezequiel Octaviano/Pixabay, Link

VII

Allgemeine Volkserziehung durch den Staat und Schulpflicht.

Kostenloser Unterricht in allen Bildungsanstalten.

Religion ist Privatsache.

Quelle: congerdesign/Pixabay, Link

Die
Sozialistische Arbeiterpartei
Deutschlands (SAP)
forderte also:

1.

Ausdehnung der politischen Rechte und Freiheiten.

Bild: Banner der Humanität (LATh-StA Gotha: Regierung Erfurt Nr. 493)

2.

Eine progressive Einkommensteuer statt indirekter Steuern, die das Volk belasten.

Bild: Ausschnitt aus einem Flugblatt (Stadtarchiv Gotha 8.9.1-1605)

3.

Unbeschränktes Koalitionsrecht. Gewerkschaften sind legal.
(Wir wollen streiken dürfen!)

Bild von Niek Verlaan auf Pixabay

4.

Normalarbeitstag, Verbot der Sonntagsarbeit

Bild: „8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Muse, 8 Stunden Schlaf“  (LATh-StA Gotha, Regierung Erfurt Nr. 498)

5.

Verbot der Kinderarbeit und aller die Gesundheit und Sittlichkeit schädigenden Frauenarbeit

Bild: Kinderarbeit (Archiv Gothaer Tivoli)

6.

Schutzgesetze für Leben und Gesundheit der Arbeiter, bessere Arbeiterwohnungen, Überwachung der Bergwerke, Fabrik-, Werkstatt- und Hausindustrie durch von Arbeitern gewählte Beamte, Haftpflichtgesetz

Bild: Gothaer Waggonfabrik (Sammlung Matthias Wenzel)

7.

Regelung der Gefängnisarbeit

Bild: Gefängnisinsassen (LATh-StA Gotha, Staatsanwaltschaft Gotha Nr. 79, Nr. 15)

8.

Volle Selbstverwaltung für alle Arbeits- und Unterstützungskassen

Bild: Statut der Unterstützungskasse der Schuhmacher (Stadtarchiv Gotha: 1.1/12390, Bl. 30)

Kritik des Gothaer Programms
von Karl Marx

genannt „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“

Karl Marx schrieb April/Mai 1875 die Kritik des Gothaer Programms, die erstmals 1891 in der Theoriezeitung „Die Neue Zeit“ erschien.

„Es war mir keineswegs ein Genuss, solch langen Wisch zu schreiben. Doch es war notwendig, damit später meinerseits zu tuende Schritte von den Parteifreunden, für welche diese Mitteilung bestimmt ist, nicht missdeutet werden.“

und weiter…

„Abgesehn davon ist es meine Pflicht, ein nach meiner Überzeugung durchaus verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm auch nicht durch diplomatisches Stillschweigen anzuerkennen.“

(Marx in einem Brief an Wilhelm Bracke 5. Mai 1875)

Karl Marx 1875

Quelle: Wikicommons, Link

Marx dachte, dass die Vereinigung der Arbeiter zu teuer erkauft sei, das Programm nichts taugt und durch die Übernahme zu vieler Ideen von Lassalle die Arbeiterbewegung an Schwung verlieren würde.

Beispiele für Marx‘ Kritik

Karl Marx 1867

Quelle: Wikicommons, Foto von Friedrich Karl Wunder, Link

Die Arbeit ist nicht die Quelle allen Reichtums (wie im Programm behauptet). Auch die Natur ist Quelle. Wenn nur die Arbeit genannt wird, sieht man nicht, dass die Eigentümer der Rohstoffe (die Unternehmer), die Arbeiter abhängig macht und damit diese nur mit seiner Erlaubnis arbeiten können. Sie können also nur soviel Reichtum gewinnen, wie der Unternehmer sie lässt.

Ehernes Lohngesetz von Lassalle – der Arbeitslohn pendelt sich immer auf das Existenzminimum ein. Wenn der Lohn darübersteigt, dann gibt es mehr Arbeiter, deswegen sinkt der Lohn wieder. Gibt es weniger Lohn, gibt es auch weniger Arbeiter, also wird der Lohn wieder steigen. Lösung nach Lassalle: Veränderungen im Parlament, deshalb Wahlrecht erweitern und Mehrheit für die Arbeiter

Kritik Marx: alles Quatsch, Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft durch Arbeitskampf der Gewerkschaften – STREIK

Nach Marx ist eine Neuordnung der Gesellschaft nicht ohne Kampf und Revolution möglich.

Verschiedene Ausgaben von Marx‘ „Kritik des Gothaer Programms“.

Sammlung Gothaer Tivoli, Foto: Andreas Kubitza

Die „Kritik des Gothaer Programms“ wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Sammlung Gothaer Tivoli, Foto: Andreas Kubitza

Resümee

Der Gothaer Parteitag 1875 schuf die Grundlage der Vereinigung der Kräfte der Arbeiterbewegung, die so zu einer Massenbewegung anwachsen konnte und damit die Lage der Arbeiter in Deutschland verbesserte.

Nur so konnten Löhne wachsen, die Einführung der Kranken- und Unfallversicherung 1883/84 und die Alters- und Invalidenversicherung 1889 erreicht werden.

Kohlmann-Gemälde zum Vereinigungsparteitag 1875

Sammlung Gothaer Tivoli, Foto: Andreas Kubitza