Kriegsausbruch
Am 28. Juni 1914 erschoss der serbische Nationalist Gavrilo Princip den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajevo. Das Attentat löste den Ersten Weltkrieg aus. Zunächst erklärte Österreich Serbien den Krieg. Durch die Bündnispolitik folgten kurze Zeit später zahlreiche Staaten. Deutschland erklärte am 1. August 1914 Russland den Krieg.
Die Mobilmachung in Deutschland löste in vielen Bevölkerungskreisen Begeisterung aus. Auch in Gotha entstand ein riesiges Heerlager. 12.000 Mann wurden eingezogen und zunächst in der Stadt ausgerüstet. Die Gothaer Kasernen reichten dafür nicht aus. Unterkünfte entstanden in Schulen, in Gastwirtschaften, in der Steck-Pianofabrik und in Privatquartieren. Die Bevölkerung beschenkte die Soldaten mit „Liebesgaben“ und Blumen. In der Öffentlichkeit ließen die Menschen vielfach in Form von Gottesdiensten, publikumswirksamen Verabschiedungen der Männer und Veranstaltungen ihren patriotischen Gefühlen freien Lauf.
Es gab aber auch Gegenstimmen. Am 30. Juni 1914 fand eine Protestversammlung in Gotha statt. Der Gothaer SPD-Reichstagsabgeordnete Wilhelm Bock hielt eine Rede vor 4.000 Menschen im Volkshaus „Zum Mohren“. Anschließend formierte sich ein aus rund 5.000 Arbeitern und Kriegsgegnern bestehender Demonstrationszug durch die Stadt. Bereits am 23. Juli hatte die SPD im Kaiserreich zu Antikriegskundgebungen aufgerufen.
Kriegsgegner
Der überwiegende Teil der Reichstagsfraktion der SPD folgte zunächst der Burgfriedenspolitik, d.h. die SPD billigte den Krieg und stimmte der Bewilligung der Kriegskredite zu, obwohl die Partei Tage zuvor zu Antikriegskundgebungen aufgerufen hatte. Allerdings gab es heftige Diskussionen vor der Abstimmung über die Kredite im Reichstag am 4. August. 14 Abgeordnete der SPD lehnten die Kredite ab, folgten allerdings zunächst der Mehrheit ihrer Partei. Die Fraktionsdisziplin brach zuerst Karl Liebknecht. Er stimmte im Dezember 1914 als Einziger der SPD öffentlich gegen die Kriegskreditbewilligung im Reichstag. Bereits 1907 hatte Liebknecht für die Jugendarbeit der SPD die Broschüre „Militarismus und Antimilitarismus“ veröffentlicht. Er wurde hierfür in einem Prozess wegen Hochverrats zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt.
Liebknecht blieb allerdings in seiner Kriegsgegnerschaft nicht allein. Mehrere Sozialdemokraten lehnten ebenso den Krieg ab. Der Gothaer Reichstagsabgeordnete Wilhelm Bock folgte zunächst dem Grundsatz der Fraktionsdisziplin im Reichstag. Bald aber schloss er sich den Kriegsgegnern an.
Aber nicht nur Teile der Sozialdemokratie kritisierten die Militär- und Kriegspolitik des Kaiserreichs. 1892 war in Berlin von Bertha von Suttner und Alfred Hermann Fried die Deutsche Friedensgesellschaft gegründet worden. Die Friedensorganisation umfasste 1914 etwa 10.000 Mitglieder in rund 100 Ortsvereinen. Vorsitzender war der Politiker Ludwig Quidde (Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei). Der Gothaer Ortsverein wurde am 14. April 1896 gegründet und hatte rund 200 Mitglieder. Er gehörte zu den aktivsten Vereinen in Deutschland. Vorstandsvorsitzender war der Gymnasialprofessor Adolf Schmidt.
Oktober 1914 erschien das Buch „Die Schöpfung der Vereinigten Staaten von Europa“ von Otto Lehmann-Rußbüldt im Verlag Neues Vaterland. Ein anschließendes Rundschreiben von Kurt von Tepper-Laski richtete sich an Pazifisten, die sich für den Frieden einsetzen wollten. Am 16. November 1914 trat so der „Bund Neues Vaterland“ ins Leben, der neben konservativen und liberalen Bürgerlichen, auch Sozialdemokraten umfasste. Ihre Ideen ebneten den Weg für den 1920 gegründeten Völkerbund.
Die Arbeiterpresse als Stimme der Kriegsgegner –
Das „Gothaer Volksblatt“
Während des Ersten Weltkrieges gehörte das Gothaer Volksblatt zu den wenigen sozialdemokratischen Zeitungen des Kaiserreichs, die kritische Artikel zu Krieg und Politik veröffentlichte. Die Redakteure Otto Geithner, Betty und Ernst Scherz, sowie Hugo Zentgraf wurden vielfach zensiert. Bis Ende 1914 wurde die Zeitung mehrmals verboten. Am 31. Januar 1915 erschien der Artikel von Betty Scherz „Die Feldmäuse und die Hamster“. Die Fabel beschrieb den Kampf zwischen Mäusen und Hamstern. Dabei standen die Mäuse als Sinnbild für die Völker und die Hamster für die Kapitalisten. Es wurde angedeutet, dass Kaiser Wilhelm II ein Hamster sei. Der Artikel führte zum Verbot des „Gothaer Volksblattes“ für den Rest des Krieges.
Wilhelm Bock gründete daraufhin eine neue sozialdemokratische Zeitung, den „Generalanzeiger für das Herzogtum Gotha“, die fortan unter seiner Aufsicht kritisch berichtete, aber immer nur so weit, so dass ein Verbot verhindert werden konnte. 1915 wurde der Redakteur Otto Geithner zum Militärdienst eingezogen. Die Einberufung war eine gängige Praxis im Kaiserreich 1914 bis 1918, um Kritiker auszuschalten. Die Einschränkung der Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit traf aber auch bürgerliche Kriegsgegner. Ludwig Quidde, der Vorsitzende der Deutschen Friedengesellschaft wurde aus Berlin ausgewiesen und seine Post überwacht. Er hielt sich daher im neutralen Ausland, wie der Schweiz und den Niederlanden, auf.
Gründung der USPD – „in Gotha, die alte Sozialdemokratie neu entstanden ist“
Der Widerstand gegen die Kriegspolitik der SPD innerhalb der Partei war schon bei der Abstimmung zur Frage der Kriegskredite im August 1914 zu Tage gekommen. Rosa Luxemburg gründete daraufhin am 5. August 1914 die Gruppe Internationale, zu der u.a. Karl Liebknecht, Leo Jogiches, August und Bertha Thalheimer, Hugo Eberlein, Franz Mehring, Wilhelm Pieck, Käte und Hermann Duncker gehörten. Auch der Gothaer Redakteur Otto Geithner schloss sich dieser Gruppe an. Die aus Friedrichroda stammende Käte Duncker und ihr Mann Hermann wohnten nach dem Ersten Weltkrieg in Gotha. Beide wurden später als Mitglieder der KPD führend in der Arbeiterbewegung Gothas tätig. Ab 1916 nannte sich die Gruppe Internationale „Spartakusgruppe“.
Am 12. Januar 1916 wurde Karl Liebknecht aus der SPD-Reichstagsfraktion ausgeschlossen. Ihm folgte freiwillig Otto Rühle. Im März schloss die SPD weitere 18 Abgeordnete aus. Unter ihnen waren auch der Gothaer Wilhelm Bock, der für den Wahlkreis Nordhausen gewählte Oskar Cohn und der für den Wahlkreis Reuß jüngerer Linie gewählte Emanuel Wurm. Die Abgeordneten hatten unter der Führung von Hugo Haase am 21. Dezember 1915 gegen die Kriegskredite gestimmt. Am 24. März 1916 hielt Haase im Reichstag eine Anti-Kriegsrede, die zu tumultartigen Szenen führte. Bei dem anschließend zur Abstimmung gebrachten Notetat stimmten seine Anhänger dagegen.
Die Ausgeschlossenen gründeten, allerdings ohne Liebknecht und Rühle, die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft (SAG). Die Spaltung der SPD nahm ihren Lauf. Die SAG organisierte vom 6. bis 8. April 1917 im Volkshaus „Zum Mohren“ in Gotha eine zweite Reichskonferenz der Opposition inklusive des Spartakusbundes. Es nahmen 124 Delegierte aus 91 sozialdemokratischen Wahlkreisorganisationen teil. Ergebnis der Konferenz war die Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD). Vorsitzender der Partei wurde Hugo Haase. Das Statut lehnte sich an das Chemnitzer Parteistatut von 1912 an. Die USPD bestand aus Revisionisten wie Eduard Bernstein, Marxisten wie Karl Kautsky und den Linken (Spartakusgruppe).
Der Gothaer Ortsverein trat nahezu geschlossen der USPD bei. Die heterogene Zusammensetzung der Partei spiegelte sich auch in Gotha wieder. In Streikleitungen und bei der Vergabe von Führungspositionen achtete der Ortsverein unter Wilhelm Bock aber stets darauf, alle Positionen paritätisch auf den rechten und linken Flügel zu verteilen. Bock selbst gehörte dem rechten Flügel der USPD an. Führender Politiker der Linken in Gotha war Otto Geithner.
Sozialdemokratische Jugendbewegung im Ersten Weltkrieg
Jugendliche unter 18 Jahren durften sich laut dem preußischen Vereinsgesetz von 1908 politisch nicht betätigen. Allerdings nahmen Jugendliche an Bildungsveranstaltungen der SPD teil und lasen die Zeitung „Arbeiter-Jugend“. Es gab auch Jugendausschüsse, denen neben Mitgliedern der Partei und Gewerkschaften, auch junge Leute angehörten. Die Zentralstelle stand unter der Leitung von Friedrich Ebert. Seit 1910 organisierten sich mehrere SPD-nahe Gothaer Jugendliche in einer Gruppe, die sich „Arbeiter-Jugend“ nannte.
Sie nahmen Ende 1915 Kontakt zu ähnlichen Gruppen in Jena und Weimar auf. Im April 1916 fand die zu dieser Zeit illegale Jugendkonferenz in Jena statt, auch die Gothaer Ewald Backhaus und Walter Krech nahmen teil. Hier sprach Karl Liebknecht, was viele Jugendliche stark beeindruckte. Es wurde über die Situation in den einzelnen Orten gesprochen, wie auch über die Stellung der Jugendlichen zur militärischen Jugenderziehung und die Stellung zur Internationalen Jugend diskutiert.
Pfingsten 1916 wurde in Gotha eine Gruppe der „Freien Jugend“ ins Leben gerufen. Diese organisierte Versammlungen, Diskussionen unter Jugendlichen und verteilte Antikriegsmaterial. Jugendliche wurden von der Polizei kaum kontrolliert und konnten so unbemerkter politisch aktiv werden. Da Forschungen zur Jugendbewegung in Gotha und Thüringen fehlen, kann bisher nicht eindeutig geklärt werden, wie die politische Ausrichtung der Gothaer Jugendlichen (Spartakusgruppe, SAG, linker oder rechter Flügel der USPD) war. In einem Artikel von Ottokar Luban 1971 wird angemerkt, dass Gotha gegen eine Spaltung der Jugendbewegung war. Die Sache der Jugend sollte auf den Parteitagen und in den Ausschüssen durch Anträge erreicht werden.
Die Januarstreiks 1918
Die Versorgungslage während des Ersten Weltkrieges wurde für die Bevölkerung immer schwieriger. Die Seeblockade der Entente-Staaten führte zur Zwangsbewirtschaftung von Nahrungsmitteln. Schon im Februar 1916 wurde das Brot, im Laufe des Jahres auch Fleisch, Butter, Zucker, Fett usw. rationiert. Es folgten Preiserhöhungen für alle Lebensmittel. 1916/17 war die Kartoffelernte schlecht ausgefallen. Die Bevölkerung musste sich im sogenannten Kohlrübenwinter und darüber hinaus überwiegend von Kohl- bzw. Steckrüben ernähren. Hunger herrschte, Krankheiten wie Grippe, Tuberkulose usw. breiteten sich aus. Die Kindersterblichkeit nahm rapide zu. Zwischen 1914 bis 1918 forderte die Mangelernährung bis zu 700.000 Menschenleben in Deutschland.
Der Unmut der Bevölkerung äußerte sich in Deutschland in Streiks, Demonstrationen und teils spontanen Aktionen. Ende 1915 beschlagnahmte die Gothaer Polizei den Verkaufswagen einer Bäuerin. Aufgebrachte Arbeiterfrauen forderten den Verkauf der beschlagnahmten Butter. Ähnliche Vorfälle und Demonstrationen initiiert vor allem von Arbeiterfrauen gab es überall in den thüringischen Kleinstaaten.
Arbeiter verteilten außerdem Flugblätter, unterhielten sich während Spaziergängen und auf dem Arbeitsweg mit Kollegen über Politik, denn die Meinungs- und Pressefreiheit war stark eingeschränkt. Kriegsgegner, die offen Kritik übten, wurden oft durch die Behörden bestraft. Gängige Praxis war dabei, dass politisch aktive Arbeiter zum Heeresdienst eingezogen wurden. Aber auch Gefängnisstrafen waren an der Tagesordnung.
Ende 1917 wurden in Gotha Flugblätter verteilt, die einen sofortigen annexionslosen Frieden forderten. Am 1. Februar 1918 schlossen sich die Gothaer Rüstungsarbeiter der Streikbewegung in Berlin, Leipzig, Dresden und anderen Städten in Deutschland an. Die „Januarstreiks“ hatten am 28. Januar unter dem Motto „Frieden und Brot!“ begonnen. Der erste Massenstreik im Krieg erfasste rund eine Million Menschen. Dem Aktionsausschuss in Berlin gehörten Philipp Scheidemann, Friedrich Ebert und Otto Braun (alle SPD), wie auch Wilhelm Dittmann, Georg Ledebour und Hugo Haase (alle USPD) an.
In Gotha streikten in acht Betrieben rund 2.560 Arbeiterinnen und Arbeiter, darunter auch 811 Jugendliche unter 21 Jahren. Das waren etwas mehr als die Hälfte der Belegschaft. Die Streikleitung übernahm ein Arbeiterrat, der sich aus Wilhelm Bock, Otto Kühnlenz, Johann Batz und Olga Mattekat zusammensetzte. Dabei gehörten Bock und Kühnlenz dem rechten Flügel der USPD, Batz und Mattekat dem linken Flügel der USPD an. Die Behörden und Fabrikleitungen reagierten mit der Einstellung von Streikbrechern, setzten Polizei und Militär gegen die Streikenden ein.
Am 4. Februar 1918 endeten die Januarstreiks in Deutschland.
Die SPD und die ostjüdischen Arbeiter
Während des Ersten Weltkrieges wurden zunächst sogenannte „feindliche Ausländer“ aus Deutschland abgeschoben. Russische und polnische Saisonarbeiter*innen dagegen mussten in Deutschland bleiben und wurden gezwungen, weiter an ihrer Arbeitsstelle tätig zu bleiben. Ihre Arbeit wurde zur Zwangsarbeit. Außerdem wurden aktiv tausende von ostjüdischen Arbeitern angeworben, um in der Rüstungsindustrie und Landwirtschaft zu arbeiten. Am 1. Januar 1918 wurde durch die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands ein Sekretariat für ostjüdische Arbeiter eingerichtet. In den Arbeiterparteien SPD, USPD und später auch der KPD gab es unterschiedliche Ansichten, ob man die ostjüdischen Arbeiter unterstützen sollte oder nicht. In der Arbeitnehmerschaft kamen antisemitische Ressentiments vor. Ostjuden wurden als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten wahrgenommen. Dagegen stellten andere Politiker der Arbeiterbewegung die internationale Solidarität und Humanität in den Vordergrund.
Nach der Novemberrevolution 1919 wurden die ausländischen Arbeiter, vor allem die staatenlosen Ostjuden in Internierungslager gebracht. Der Antisemitismus gegen sie nahm stetig zu.
Einige SPD-Politiker traten für die ostjüdischen Arbeiter ein. Der preußische Innenminister Wolfgang Heine (SPD) betrieb mit einem Erlass vom 1. November 1919 eine Duldungspolitik. Nur straffällig gewordene Ostjuden sollten ausgewiesen werden. Eine Abschiebung war oft aus humanitären Gründen nicht möglich, da in den Herkunftsländern durch den dort herrschenden Antisemitismus Lebensgefahr bestand. Bayern war radikaler. Der bayrische Innenminister Gustav Ritter von Kahr (parteilos) richtete April 1920 ein Internierungslager für nicht abschiebbare Ostjuden in Ingolstadt ein. Er betrieb eine äußerst inhumanitäre Unterbringung der Ostjuden.
Der Nachfolger von Heine in Preußen Carl Severing (SPD) gab allerdings dem Druck von rechts nach und ließ 1920 in Berlin 282 Ostjuden verhaften und im Lager Wünsdorf-Zossen internieren. Das jüdische Arbeiterfürsorgeamt (AFA) erreichte die Freilassung der Menschen. Ab 1. Juni 1920 wurden dennoch Sammellager in Preußen eingerichtet. Severing verfolgte eine Politik, welche die Ostjuden und die anfallenden Kosten international verteilen wollte. Da dies aussichtslos war, wurden 1921 zwei Konzentrationslager in Stargard in Pommern und Cottbus-Sielow errichtet. Die Zustände in den Lagern waren katastrophal. Die Internierten mit ihren Familien wurden beschimpft und geschlagen, wohnten auf engstem Raum, ihre Briefe wurden zensiert, ärztliche Versorgung verweigert und die Lebensmittelversorgung war mangelhaft. Am 26. Mai 1921 brannte eine Baracke in Stargard nieder. Die ostjüdischen Insassen konnten sich nur über die Fenster retten, weil die Tür verschlossen war und wurden anschließend vom Wachpersonal misshandelt.
Es war insbesondere der USPD-Politiker Oskar Cohn (Abgeordneter des Preußischen Landtages, bis 1918 Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Nordhausen), der sich für die Untersuchung der Vorkommnisse einsetzte und die ostjüdischen Arbeiter verteidigte. Er verwies darauf, dass die Arbeiter während des Ersten Weltkrieges für die deutsche Wirtschaft tätig waren und nun unmenschlich interniert würden. Er forderte mit einem Antrag die Auflösung der Lager. Er scheiterte zunächst. Unterstützt wurde er von Ernst Heilmann (Abgeordneter der SPD im Preußischem Landtag). Die AFA hatte derweil festgestellt, dass auch in Cottbus-Sielow Ostjuden gefangen gehalten wurden, die nicht straffällig geworden waren. Sie erreichten ihre Freilassung. Weiterhin setzte sich Mathilde Wurm (Reichstagsabgeordnete der USPD für den Wahlkreis Thüringen) und Prof. Gustav Radbruch (Abgeordneter der SPD im Reichstag) für die Auflösung der Lager ein. Mathilde Wurm besuchte am 19. Juni 1921 Stargard und veröffentlichte ihre Eindrücke in der Jüdischen Arbeiterstimme. Ihre Kritik und die weitere öffentliche Aufmerksamkeit führten tatsächlich zur Verbesserung der Bedingungen in Stargard: Wachpersonal wurde entlassen, Anklage erhoben, die Briefe nicht mehr kontrolliert. Das Lager wurde später geschlossen. Cottbus-Sielow dagegen bestand für Abschiebungen nach Russland und Polen weiter. Die Abgeordneten der SPD, USPD und KPD im Preußischen Landtag stellten im November 1922 einen weiteren Antrag auf Schließung des Lagers. Aber erst die Inflation und die nicht mehr zu tragenden Kosten führten zur Schließung von Cottbus-Sielow im Herbst 1923. Ebenso aus finanziellen Gründen wurde 1924 das bayrische Internierungslager in Ingolstadt geschlossen.
In Gotha war es der SPD-Politiker und Kreisarzt Fritz Noack, der sich für die Interessen der Ostjuden stark machte. Er unterstützte sie in der Vertretung ihrer Interessen zum Beispiel vor der Jüdischen Gemeinde in Gotha. Weiterhin nahm er ostjüdische Jugendliche in seine zionistische Jugendgruppe auf und pflegte ihre Kultur z. B. durch das Singen jiddischer Lieder.
Novemberrevolution 1918 – Das Ende des Ersten Weltkrieges und der Monarchie
Der Flottenbefehl vom 24. Oktober 1918 mit der Aufforderung die deutsche Marine in eine große Schlacht gegen die englischen Streitkräfte zu führen, löste eine Meuterei der Matrosen aus. Sie wollten nicht länger für einen verlorenen Krieg ihr Leben geben. Das war der Ausgangspunkt der Novemberrevolution, die sich schnell in alle Gebiete Deutschlands ausbreitete. Friedrich Ebert (SPD) forderte am 6. November den Thronverzicht von Kaiser Wilhelm II. Am gleichen Tag sagten die Kriegsgegner Deutschlands (die Entente) Waffenstillstandsverhandlungen zu. Der Kaiser weigerte sich. Am 9. November verkündete Prinz Max von Baden eine Erklärung über die Abdankung des Kaisers. Philipp Scheidemann (SPD) verkündete von einem Fenster des Reichstags vor einer wartenden Menge die Republik. Am selben Tag übernahm Friedrich Ebert das Amt des Reichskanzlers und die Regierung. Karl Liebknecht rief fast zeitgleich vom Balkon des Berliner Stadtschlosses die Freie Sozialistische Republik Deutschlands aus.
Die Novemberrevolution in Gotha verlief relativ friedlich. Am 9. November 1918 erklärte Wilhelm Bock auf einer Kundgebung auf dem Hauptmarkt Herzog Carl Eduard für abgesetzt und rief die sozialistische Republik aus. Anschließend ging eine Gruppe von USPD-Politikern, bestehend aus Wilhelm Bock, Cuno Blechschmidt und Otto Geithner zum herzoglichen Staatsministerium und setzte den Staatsminister Hans Barthold von Bassewitz von der Absetzung des Herzogs in Kenntnis. Es bildete sich ein Arbeiter- und Soldatenrat, der gestützt auf die herzogliche Verwaltung und die städtische Polizei die Regierung übernahm. Der Arbeiterrat bestand aus 70 Personen, darunter eine Frau (Paula Kautz), der Lehrer Reinhard Hose (später DDP) und der Polizeikommissar Max Gisohn. Den Vorsitz hatte zeitweise Otto Geithner inne. War der Arbeiter- und Soldatenrat zunächst spontan entstanden, wurde wenige Tage später eine offizielle Wahl der Vertreter durch die Arbeiter*innen und Angestellten in den Fabriken durchgeführt. Von der Wahl blieben Hausfrauen, das Bürgertum und Erwerbslose, also ein wesentlicher Teil der Bevölkerung, ausgeschlossen.
Um die Regierungsgeschäfte einfacher ausführen zu können, wurde zunächst ein Vollzugsausschuss mit neun Mitgliedern eingesetzt, der Ende November durch den Rat der Volksbeauftragten abgelöst wurde. Diesem gehörten Wilhelm Bock, Emil Grabow und Adolf Schauder an. Anfang 1919 trat Wilhelm Bock zurück und wurde durch Albin Tenner ersetzt.
Die Besonderheit Gothas im Vergleich zum restlichen Thüringen war, dass zum einen der Gothaer Landtag Ende November als Einziger der Länderparlamente aufgelöst wurde, und zum anderen in den anderen thüringischen Herzogtümern die Regierung von Arbeiter- und Soldatenräten bzw. der Arbeiterschaft nicht allein oder gar nicht übernommen wurde. In vier ehemaligen thüringischen Herzogtümern gab es keinen regierungsbildenden Arbeiter- und Soldatenrat (ASR). Ein Staat besaß trotz ASR eine parteilose Regierung und zwei Staaten einen ASR, der mit dem linksliberalen Bürgertum zusammenarbeitete.
Bei der Auflösung des Landtages kam es auch zu Differenzen innerhalb der Gothaer USPD: Wilhelm Bock (rechter Flügel) wollte alles auf gesetzlichem Wege erreichen, Otto Geithner (linker Flügel) die sofortige Auflösung des Parlaments. Auch die Gothaer Stadtverordnetenversammlung wurde aufgelöst, was zu starken Protesten von Seiten des Bürgertums führte.
Die Zahl der Mitglieder der Landesorganisation der USPD stieg in dieser Zeit von 600 auf 6.000. Die Zahl der Ortsvereine von 15 auf 90. Die Politik der USPD fand also breite Zustimmung in der Bevölkerung.