1871 – Pariser Kommune
Nachdem die Armee Napoleons III. bei Sedan am 1./2. September 1870 den preußisch-deutschen Truppen unterlegen war, gingen Napoleon III. und über 80.000 Soldaten in Gefangenschaft. Auf Druck der Pariser Volksmassen wurde am 4. September die Dritte Republik proklamiert, welche bis 1940 bestand. Es entstand eine „Regierung der nationalen Verteidigung“. Die Kriegshandlungen wurden fortgesetzt und Paris wurde von den preußisch-deutschen Truppen belagert. Vor allem für die unteren Bevölkerungsschichten verschärfte sich die Lage beträchtlich. Die Unruhen nahmen zu. Am 28. Januar 1871 kapitulierte Paris und es wurde der deutsch-französische Waffenstillstand geschlossen. Im Februar bildete sich eine neue Regierung unter Adolphe Thiers. Am 26. Februar wurde der Vorfrieden geschlossen. Frankreich blieb jedoch bis zur Zahlung der Kontribution besetzt und musste Lothringen mit der strategisch wichtigen Festung Metz und das Elsass (ohne die Stadt Belfort) abtreten, zudem 5 Milliarden Franc innerhalb von drei Jahren zahlen. Wenngleich auch das Pariser Umland besetzt blieb, war die Nationalgarde in der Stadt nach wie vor unter Waffen. Diese Garde wurde zum Motor der nun folgenden Ereignisse.
Am 18. März versuchten französische Truppen der Regierung Thiers die Artilleriegeschütze der Nationalgarde zu beschlagnahmen. Die aufgebrachten Volksmassen und die Nationalgarde verhinderten diesen Angriff und zwangen die Regierungstruppen zur Flucht. Das Zentralkomitee der Nationalgarde übernahm die Macht in der Stadt. Es bestand vorwiegend aus Arbeitern und kleinbürgerlichen, revolutionär-demokratisch ausgerichteten Schichten. Nach den Wahlen vom 26. März wurde am 28. März die Pariser Kommune proklamiert. Die Kommune war außerordentlich vielfältig und bestand vorwiegend aus blanquistischen, radikal-demokratischen, anarchistischen, republikanischen und kleinbürgerlichen Akteuren sowie aus proudhonistischen und einigen marxistischen Akteuren, zudem aus Anhängern der Internationalen Arbeiterassoziation. Sogleich wurde das stehende Heer durch eine Volksbewaffnung ersetzt. Legislative und Exekutive wurden zusammengefasst. Der bisherige Staatsapparat wurde entmachtet. Vertreter staatlicher Organe wurden gewählt und waren jeder Zeit absetzbar. Es erfolgte die Trennung von Staat und Kirche. Die extreme soziale Ungleichheit wurde bekämpft, Wohnungen Bedürftigen zur Verfügung gestellt und überhöhte Mieten verboten. Leerstehende Fabriken wurden in die Selbstverwaltung überführt. Es folgte die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, ebenso wie gleicher Lohn für Frauen und viele weitere Unterstützungen vor allem für die unteren Bevölkerungsschichten.
In der Zwischenzeit wurde am 10. Mai im „Frankfurter Frieden“ ein endgültiger Friedensschluss fixiert. Am 21. Mai begann der Sturm auf Paris, wobei die französischen Regierungstruppen durch preußisch-deutsches Militär unterstützt wurden. Mit unnachgiebiger Härte wurde die Kommune ohne Gnade niedergemetzelt, wobei selbst Greise, Frauen und Kinder nicht verschont blieben. Am Ende der „Blutigen Maiwoche“ waren auf Seiten der Kommune weit über 25.000 Tote zu beklagen. Für über 60.000 Menschen folgten harte Zuchthausstrafen und Deportationen in die Kolonien zur Zwangsarbeit. Die französische Reaktion hatte mit Unterstützung Otto von Bismarcks und den preußischen-deutschen Truppen gesiegt. Der emanzipatorische Frühling von Freiheit, Gleichheit und Solidarität wurde grausam erstickt.
1875 – Das Gothaer Programm
Pfingsten 1875 kam es auf dem Vereinigungsparteitag in Gotha zum Zusammenschluss der beiden Arbeiterparteien ADAV und SDAP zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Hier wurde ein gemeinsames Programm beschlossen. In der Folgezeit wurden alle sozialdemokratischen Programme nach dem Ort ihrer Verabschiedung benannt. Das sehr kurze Programm konzentriert sich auf tagesaktuelle Forderungen im seit 1871 gegründeten Deutschen Reich.
Im Vordergrund steht die Demokratisierung des Kaiserreichs. So wird ein allgemeines Wahlrecht für alle Staatsbürger ebenso gefordert wie die Presse- und Redefreiheit, die Vereinigungsfreiheit zur Gründung von Gewerkschaften und die unentgeltliche Rechtsprechung und Volksbildung.
Diese und andere Forderungen waren Gemeingut beider Parteien auch schon vor der Vereinigung. Vielfach atmete das Programm noch den Geist einer längst vergangenen Epoche. Es war nicht mehr auf dem Stand der Zeit, denn inzwischen hatte sich die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Produktionsweise weiterentwickelt. Die Internationale Arbeiterassoziation (die sogenannte Erste Internationale, gegründet 1864) hatte programmatische Forderungen erhoben, hinter denen das Gothaer Programm zurückblieb. Außerdem hatte Karl Marx „Das Kapital“ 1867 veröffentlicht, das vielem widersprach, was im Programm stand.
Dass das Gothaer Programm überragende Bekanntheit erlangte, lag weniger an ihm selbst, sondern an einer Kritikschrift, die Karl Marx seinen Vertrauten aus der SDAP zusandte, in der er sich von den theoretischen Grundsätzen distanzierte.
Karl Marx war mittlerweile ein bekannter Theoretiker und Programmatiker der internationalen Arbeiterbewegung. Er verfasste die grundlegenden Programmtexte der Internationalen Arbeiterassoziation, die ihren Sitz in London hatte. Seine Kritik richtete sich etwa gegen den „bürgerlichen“ Reichtumsbegriff. Danach hieß es, dass die Quelle allen Reichtums die Arbeit sei. Marx hob demgegenüber hervor, auch die Natur sei eine Quelle des Reichtums. Weiter hielt er das Ziel „Erreichung eines Volksstaates“ für zu „bürgerlich“. Das „Eherne Lohngesetz“, nach dem jegliche gewerkschaftliche Tätigkeit als vergeblich angesehen wurde, hielt Marx für falsch. Die Forderung nach staatlicher Förderung des Genossenschaftswesens kritisierte er als untauglich, stattdessen sollte eine gemeinschaftliche Wirtschaftsweise angestrebt werden.
Erst 1891, kurz bevor das Erfurter Programm der SPD beschlossen wurde, wurde dieser Text von 1875 „Randglossen zum Programm der Arbeiterpartei“ von Friedrich Engels und Karl Kautsky in der Theoriezeitschrift „Die neue Zeit“ veröffentlicht. Inklusive des Briefwechsels bezüglich des Gothaer Parteitags an Marx‘ Freunde aus der SDAP.
Der russische Sozialdemokrat Lenin machte diese Schrift bekannt, als er sich 1917 in seinem Hauptwerk „Staat und Revolution“ wesentlich auf Marx‘ Text bezog. Vor allem in der kommunistischen Welt wurde dieser kurze Kritikaufsatz immer wieder als Broschüre verlegt. Der Aufsatz hatte den Zweck, das „lasalleanische Erbe“ in den reformistischen und die revisionistischen Richtungen der deutschen und internationalen Sozialdemokratie anzugreifen. Die Kommunisten, wie Lenin, beanspruchten für sich das alleinige Vermächtnis von Marx und Engels und bevorzugten den revolutionären Weg zum Sozialismus.
Seit dieser Zeit wird die Marxsche Schrift überwiegend Kritik des Gothaer Programms betitelt, was den hochinteressanten Nebeneffekt hatte, dass damit der Stadt Gotha zu weltweiter Bekanntheit verholfen wurde.
Die Gothaer Parteitage 1876 und 1877
Mit dem Vereinigungskongress zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschland (SAPD) und der im Anschluss folgenden Gewerkschaftskonferenz zur Schaffung einheitlicher Gewerkschaften im Mai 1875 wurde das Fundament für eine starke organisierte Arbeiterbewegung gegossen.
Dennoch war der Verfolgungsdruck seitens staatlicher Behörden enorm, wenngleich die Lage in den einzelnen deutschen Ländern spezifisch war und sich die jeweiligen Vereinsgesetze und deren Anwendung unterschieden. Noch fand im Deutschen Reichstag die Novelle zum Strafgesetzbuch zur Verschärfung der bestehenden Gesetze im Januar 1876 keine Mehrheit. Im März 1876 wird die SAPD in Preußen verboten. Im Juli verabschiedete der Reichstag das Gesetz über die freien Hilfskassen. Die Selbstverwaltung sollte eingeschränkt werden.
Vor dem Hintergrund zunehmender Repressionen fand vom 19. bis 23. August 1876 der „Allgemeine Sozialistenkongress“ in Gotha statt. Neben den Berichten zu den Aktivitäten der Abgeordneten im Reichstag, der Beratung zur Strategie und Taktik für die kommende Reichstagswahl und der Agitation standen vor allem Fragen zur Führung der Partei, der Parteipresse und die Einrichtung einer zentral ausgerichteten Parteizeitung zur Diskussion. Der Herausgabeort der Parteizeitung führte zu heftigen Kontroversen, wobei die ehemaligen „Lassalleaner“ Berlin und die ehemaligen „Eisenacher“ Leipzig favorisierten. Mit der Wahl des Ortes war nicht zuletzt die inhaltliche Ausrichtung verbunden. Nach intensiver Debatte einigte man sich schließlich auf Leipzig und bereits am 1. Oktober 1876 erschien die erste Ausgabe des „Vorwärts“ als „Central-Organ der deutschen Sozialdemokratie“. Die Leitung oblag Wilhelm Liebknecht und Wilhelm Hasenclever. 1877 wurde im „Vorwärts“ eine umfangreiche Artikelserie von Friedrich Engels veröffentlicht („Anti-Dühring“), womit die Verbreitung des Marxismus in der Arbeiterschaft erheblich befördert wurde.
Die Partei wurde stärker. Bei der zweiten Reichstagswahl 1874, im Jahr vor dem Vereinigungskongress, erreichten die „Eisenacher“ 171.351 Stimmen und stellten sechs Abgeordnete; die „Lassalleaner“ 180.319 Stimmen, drei Abgeordnete. Die vereinte SAPD erreichte bei den Reichstagswahlen 1877 nahezu 500.000 Stimmen und zwölf Abgeordnetensitze. Die SAPD hatte 9,1 % aller Wählerstimmen gewonnen, stellte jedoch nur 3 % der Abgeordneten. Generell war die Sozialdemokratie im gesamten Kaiserreich durch den Zuschnitt der Wahlbezirke und das Mehrheitswahlrecht erheblich benachteiligt. Zudem wurde die Sozialdemokratie weiterhin verfolgt.
Vom 27. – 29. Mai 1877 trat wiederum in Gotha der „Allgemeine Sozialistenkongress“ zusammen. Ebenso wie 1876 wurde die Bezeichnung „Parteitag“ aufgrund des Verfolgungsdrucks vermieden. Neben den Aktivitäten im Reichstag und dem Pressewesen der Partei stand die Frage der Agitation im Vordergrund. Es wurde beschlossen, die Agitation in den ländlichen Räumen auszuweiten. Gotha blieb zunächst weiterhin ein attraktiver Ort für Konferenzen und Kongresse. Im Februar 1878 fand eine Gewerkschaftskonferenz zur weiteren Zentralisierung der Gewerkschaften und zur Zusammenführung lokaler Verbände statt. Es wurde beschlossen, eine weitere Konferenz in Magdeburg durchzuführen. Für zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. im Mai und im Juni 1878 wurde die Sozialdemokratie unberechtigter Weise verantwortlich gemacht. Nunmehr war der Vorwand für das „Sozialistengesetz“ gegeben. Der für 1878 geplante Kongress in Gotha konnte unter diesen Bedingungen nicht mehr durchgeführt werden.
1878 – Das „Sozialistengesetz“
Als der Deutsche Reichstag am 19. Oktober 1878 das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ („Sozialistengesetz“) verabschiedete, stimmten 221 Abgeordnete für das Gesetz, 149 Abgeordnete dagegen. Die Befürworter waren vorwiegend nationalliberale, frei- und deutschkonservative Abgeordnete; dagegen stimmten Abgeordnete der linksliberalen Deutschen Fortschrittspartei, der Zentrumspartei und der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Im Sprachgebrauch der damaligen Zeit wurden „sozialistisch“ und „sozialdemokratisch“ synonym verwendet.
Es brach nun eine Zeit verschärfter und schwerwiegender Verfolgungen und Repressalien an. Insgesamt viermal wurde das Gesetz verlängert. Am 25. Januar 1890 stimmten nur noch 98 Abgeordnete für eine Verlängerung, 169 dagegen. Am 30. September 1890 trat das Gesetz außer Kraft. Zuvor, am 20. März, endete die Ära Bismarck, neuer Reichskanzler wurde General Leo von Caprivi. Energisch und unerbittlich hatte Reichskanzler Bismarck die Arbeiterbewegung bekämpft, er war gescheitert und musste er gehen: „Der Lotse geht von Bord“ spottete eine zeitgenössische Karikatur. Unter Caprivi begann nun ein „neuer Kurs“.
Mit dem „Sozialistengesetz“ sollte vor allem die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zerschlagen werden, aber auch liberale Demokraten, Republikaner und Katholiken befürchteten einen erhöhten Verfolgungsdruck. Das weitgefasste Gesetz öffnete Tür und Tor für selbst willkürliche Maßnahmen gegen jedwede Opposition. Neben „sozialistischen“ Presseerzeugnissen wurden politische Vereine und Organisationen, Gewerkschaften, Unterstützungs- und Hilfsvereine, Kultur-, Bildungs-, Gesangs- und sogenannte „Vergnügungsvereine“ verboten: In Gotha betraf es sogleich 1878 den „Allgemeine Arbeitersängerverein“. Der § 28 des Gesetzes erlaubte den sogenannten „Kleinen Belagerungszustand“, welcher über Regionen und Orte verhängt werden konnte. Neben einem allgemeinen Waffenverbot mussten Versammlungen angezeigt und genehmigt werden, ausgenommen waren Versammlungen im Kontext von Landes- und Reichstagswahlen. Druckschriften durften nicht öffentlich verteilt werden. Besonders schwerwiegend war die Möglichkeit zur Ausweisung „von Personen, von denen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu besorgen ist, der Aufenthalt in den Bezirken oder Ortschaften versagt werden kann“ (§ 28/3). Die hiervon Betroffenen mussten ihre Angehörigen verlassen, verloren ihren Arbeitsplatz bzw. mussten ihr Gewerbe aufgeben. Sie gerieten in materielle Not, wurden in andere Regionen verdrängt oder mussten ins Ausland flüchten. Insgesamt waren 889 Sozialdemokraten mit ihren Familien betroffen. Ein anderer Ort bedeutete nicht immer eine neue Bleibe, wiederum konnten weitere Ausweisungen folgen. Vielfache Solidarität erfuhren die Ausgewiesenen von den jeweiligen Genossen vor Ort, sie agitierten und arbeiteten im Untergrund weiter. Insgesamt wurden über 1.500 Personen zu ca. 1.000 Jahren Gefängnishaft bzw. Zuchthaus verurteilt.
1878 bis 1890 – Illegalität und Aufstieg
Die Bewegung wuchs nicht nur im Deutschen Reich. Durch Ausgewanderte und Ausgewiesene entwickelten sich auch die Arbeitervereine im Ausland. Da auch die Parteipresse verboten worden war, wurde ab 1879 „Der Sozialdemokrat“ in der Schweiz gedruckt, nach Deutschland geschmuggelt und weiträumig mit außerordentlicher Raffinesse verteilt. Ein wesentlicher Akteur war der „rote Feldpostmeister“ Julius Motteler. Diese Arbeit war mit hohen Risiken verbunden, „so erhielt“ in Gotha „der Genosse Kukelhahn zweieinhalb Jahre Gefängnis, weil er die Verbreitung des ´Sozialdemokrat` organisiert hatte.“, schrieb Wilhelm Bock in seiner Autobiographie „Im Dienste der Freiheit“.
Zudem erschienen vermeintlich politisch unverdächtige „Fachblätter“ diverser Berufszweige, bspw. gab Wilhelm Bock, das „Schuhmacher-Fachblatt. Organ der deutschen Schuhmacher“ heraus. Ferner wurden vielfältige „unverdächtige“ Begegnungsforen gegründet. In Gotha handelte es sich um einen Kegelklub, einen Gesangsverein und um ein Tanzkränzchen. Ferner fanden landauf und landab illegale Zusammenkünfte statt.
Durch das „Sozialistengesetz“ waren auch Parteitage unmöglich geworden, man musste ins Ausland gehen: 1880 auf Schloss Wyden in der Schweiz unter dem unverdächtigen Titel „Generalversammlung der Kranken-, Wander- und Alters-Unterstützungskassen der deutschen Vereine der Schweiz“, 1882 Züricher Augustkonferenz, 1883 Kopenhagener Parteikongress, 1887 Parteitag St. Gallen (CH). An letzterem nahm Wilhelm Bock als Delegierter teil.
Trotz massiver Verfolgung, ungezähltem Leid der Betroffenen und ihrer Familien war es Bismarck und seinen Mitstreitern nicht gelungen, die sozialistische Arbeiterbewegung zu zerschlagen. Im Gegenteil: Bei den Reichstagswahlen am 20. Februar 1890 erzielte die Sozialdemokratie ihr bis dahin bestes Ergebnis: 1.427.298 Stimmen. Trotzdem die Partei die meisten Wählerstimmen von allen erreicht hatte (19,7 %), bekam sie aufgrund des benachteiligenden Mehrheitswahlrechts und dem Zuschnitt der Wahlbezirke von insgesamt 397 Abgeordnetensitzen nur 35 Sitze (8,8 %). Reichskanzler Bismarck hatte mit diesem „Sozialistengesetz“ verloren, am 20. März musste er gehen. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung hatte nunmehr eine Massenbasis gewonnen, trotz alledem.
August Bebel: „Die Frau und der Sozialismus“
1879 erschien in der Leipziger Genossenschaftsdruckerei August Bebels Buch „Die Frau und der Sozialismus“. Es sollte die erfolgreichste Publikation von Bebels Schriften werden und die „Bibel der proletarischen Frauenbewegung“. Im Vorfeld hatte Bebel während einer Haftstrafe ab 1872 Yves Guyot und Sigismond Lacroix „Die wahre Gestalt des Christentums“ ins Deutsche übersetzt. Der Anhang beinhaltete eine Betrachtung über die „gegenwärtige und zukünftige Lage der Frau“, die nach Bebel die „erste parteigenössische Abhandlung über die Stellung der Frau vom sozialistischen Standpunkt aus“ war. Während einer weiteren Haft 1878 schrieb Bebel sein Buch „Die Frau und der Sozialismus“. Nach dem Erscheinen wurde es sofort verboten. Im Anschluss wurde es in Zürich gedruckt und wieder verboten. Otto von Bismarck stellte März 1884 fest, dass das Buch „zur Vergiftung des gemeinen Mannes“ geeignet sei. Alle Maßnahmen hielten den Erfolg von Bebels Schrift nicht auf. Es wurde bis kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in 15 Sprachen übersetzt.
August Bebel betrachtete die Frauenfrage in Abhängigkeit von der sozialen Frage. Er stellte fest, dass die „endgültige Lösung [der Frauenfrage] nur durch die Aufhebung der gesellschaftlichen Gegensätze und Beseitigung der aus diesen hervorgehenden Übel“ möglich sei. Alle Frauen seien ein „von der Männerwelt beherrschtes und benachteiligtes Geschlecht“. Sein Fazit war:
„Es gibt keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichstellung der Geschlechter.“
Um seine Thesen zu beweisen, analysierte Bebel im Buch „Die Frau in der Vergangenheit“ und leitete dann über zu „Die Frau in der Gegenwart“. Es folgten Kapitel über „Staat und Gesellschaft“ und „Die Sozialisierung der Gesellschaft“. Er legte dar, wie die Arbeiterbewegung aus der Geschichte lernen und die gesellschaftlichen Bedingungen nur zusammen mit der Frau verändern könne.
August Bebel war in der Sozialdemokratie ein Vorkämpfer für Frauenrechte und das in einer Zeit, in der in Teilen der männlichen Arbeiterschaft die Frau noch als „Konkurrenz für die Männer“ und als „Lohndrückerin“ galt sowie ihre Rolle als Hausfrau und Mutter zugewiesen bekam.
Das Buch, das so viele Arbeiterinnen beeinflusste, wurde in der NS-Zeit verboten. Es wurde bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 ein Opfer der Flammen.
Zur sozialen Frage und zur „Arbeiterfrage“
Die „soziale Frage“ wie auch die später daraus abgeleitete „Arbeiterfrage“ resultierten aus den tiefgreifenden sozioökonomischen Veränderungen einer Gesellschaft im sozialen Wandel. Im Ergebnis dieser Veränderungen hatte sich der Kapitalismus als Wirtschaftsweise durchgesetzt. Der Übergang vom Agrar- zum Industriestaat war endgültig vollzogen. Das enorme Bevölkerungswachstum, die Industrialisierung, die staatlichen Reformen und die Kraft des kapitalistischen Marktprinzips wirkten in diesem Prozess als Triebkräfte. Die Auswirkungen auf die soziale Lage der Bevölkerung, besonders für die Unterschichten, waren dabei höchst ambivalent. Einerseits wuchs die individuelle Freiheit im Zuge der Agrar- und Gewerbereformen, ständische Beschränkungen und Zwänge nahmen ab. Andererseits erodierten traditionelle Sicherungssysteme. Das soziale Elend der unteren Bevölkerungsschichten gipfelte schließlich im Pauperismus der 1840er bis 1860er Jahre. Insgesamt war das lange 19. Jahrhundert also ein „Jahrhundert der Not“ (Kocka). In den drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg verbesserte sich die soziale Lage, wenngleich die soziale Ungleichheit immer noch gravierend war. Wahrscheinlich handelte es sich aber um eine derart leichte „Tendenzwende“, dass diese nicht einmal von den Zeitgenossen bemerkt wurde. Von einer Trendwende hinsichtlich sozialer Ungleichheit und demokratischer Mitbestimmung in Politik und Wirtschaft kann demnach nicht ausgegangen werden
Betrachtet man zusammenfassend die soziale Struktur des Kaiserreichs, so standen an der Spitze der Gesellschaft ungefähr 5 % der Bevölkerung (Adel, oberes Wirtschafts- und Bildungsbürgertum). Selbst wenn Familienangehörige und Kleinbürgertum zu den oberen Schichten des Bürgertums hinzugezählt werden, umfasst diese gesellschaftliche Großgruppe lediglich ca. 15 % der Bevölkerung. Hinsichtlich des Anteils am Gesamteinkommen verfügten die oberen 10 % der Einkommensbezieher über 40 % des Gesamteinkommens, während mindestens 66 % der Reichsbevölkerung unterhalb der Grenze des niedrigsten Jahreseinkommens lagen.
Angesichts der gravierenden sozialen Ungleichheit hinsichtlich der Verteilung von Einkommen wie auch von Bildungs- und Berufschancen, von unzureichender sozialer Absicherung der Alltags- und Lebensrisiken und vielfacher Ausgrenzung von politischen und betrieblichen Mitbestimmungschancen enthielt die Gesellschaft des wilhelminischen Kaiserreiches ein hohes Konflikt- und Spannungspotential, das sich allerdings nicht revolutionär-eruptiv entlud. Erst die Zuspitzung der Verhältnisse durch den Ersten Weltkrieg führten zu einer umfassenden Umgestaltung der Gesellschaftsordnung, in der die Machteliten des Kaiserreichs weiterhin eine wichtige Rolle spielten.
Neben den objektiv messbaren Indikatoren, welche das extreme Ausmaß sozialer Ungleichheit verdeutlichen, stehen subjektive Bewertungen seitens unzähliger Arbeiter, die ihre Lage mit der eines „Sklaven“, „Staubtieres“, „Lohnsklaven“ usw. gleichsetzten. Die ungleiche Teilhabe an den materiellen und kulturellen Errungenschaften, ebenso die Vorenthaltung wirtschaftlicher und politischer Mitbestimmungsmöglichkeiten – all dies verdichtete sich zur Wahrnehmung, „nur Mensch zweiter Klasse“ zu sein. Politisch Engagierte wurden als „vaterlandslose Gesellen“, „Aufrührer“ und „Umstürzler“ diffamiert und mussten mannigfache Repressionen im preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat ertragen.
1881 – Zur staatlichen Sozialpolitik
Der repressiven Politik des „Sozialistengesetzes“ wurde in der Folge eine Sozialpolitik eingerichtet, die sozial beruhigend wirken sollte. In der „Kaiserlichen Botschaft“ vom 17. November 1881 heißt es: „Schon im Februar dieses Jahres haben wir unsere Überzeugung aussprechen lassen, dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu sein werde.“ Ziel war es, den „inneren Frieden“ zu erhalten: Verhinderung der Revolution durch soziale Beruhigung bei gleichzeitiger Vorenthaltung echter wirtschaftlicher (betrieblicher) und politischer Mitbestimmungsrechte, eben „Zuckerbrot und Peitsche“. Weder ausreichende soziale Sicherung noch geregelter sozialer Interessenausgleich waren die Zielsetzung, sondern soziale Sicherung auf niedrigem Niveau ohne rechtlich gesicherten sozialen Interessenausgleich.
Besonders in der ersten Zeit wurden weite Teile der Bevölkerung und Arbeiterschaft nicht erreicht. So richteten sich die Kranken- und Unfallversicherung (1883 und 1884) nur an einen Teil der gewerblichen Arbeiter und unteren Angestellten, wobei Familienmitglieder zunächst nicht einbezogen wurden. 1914 waren nahezu 25 Prozent der Bevölkerung Mitglieder einer gesetzlichen Krankenkasse. Im Bedarfsfalle waren die Leistungen oftmals geringer als die Lebenshaltungskosten. Das Risiko Krankheit wurde zwar besser abgesichert, schützte jedoch nach wie vor nicht vor Armut und existenzieller Not.
Die Invaliditäts- und Altersversicherung (1889) bezog zwar Land- und Forstarbeiter mit ein, grenzte jedoch anfangs Witwen und Waisen aus. 1911 wurde mit der Invaliditäts- und Altersversicherung für Angestellte eine eigene Versicherung für diese Gruppe geschaffen. Die „Rentenpolitik“ war auf eine standesgemäße Altersversorgung und soziale Differenzierung angelegt, wobei besonders Geringverdienende und Frauen benachteiligt waren. Erwerbsunfähig, also invalid, war derjenige, der überhaupt nicht mehr arbeiten konnte. Eine partielle Invalidität war nicht vorgesehen: „Der Arbeiter bekommt also auch nicht einen Pfennig, es sei denn, er habe es zum vollkommenen Krüppel, der keine Hand mehr rühren kann, gebracht.“, so der Sozialdemokrat Max Schippel. Eine Altersrente erhielt man im Regelfall erst dann, wenn man mindestens 24 Jahre eingezahlt und das siebzigste Lebensjahr erreicht hatte. Angesichts der extensiven und intensiven Ausbeutung der Arbeitskraft und der damit verbundenen (frühzeitigen) Verschleißerscheinungen erreichten vergleichsweise wenige Arbeiter dieses Rentenalter. Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren das keine 30 Prozent der Männer. Die meisten Arbeiter starben zuvor. Auf Grund der noch niedrigen Rente bedeuteten Alter und Invalidität zumeist Armut. Wer das Rentenalter nicht erreichte, hatte ohnehin bis zur Reichsversicherungsordnung von 1911 umsonst in die Kassen gezahlt. Mit dem Tod des Einzahlers erlosch der Versicherungsanspruch, die hinterbliebene Familie ging leer aus. Aber auch die gesetzliche Hinterbliebenenversicherung, welche 1911 eingeführt wurde, stellte Arbeiterfrauen nicht wesentlich besser. Nur erwerbsunfähige Arbeiterfrauen bekamen Witwenrenten. Die weit überwiegende Mehrzahl der Arbeiterfrauen sollte im Gegensatz zu Angestelltenfrauen bis zum Lebensende arbeiten. 1913 betrug die Bevölkerung rund 65 Millionen, davon erhielten weniger als 100.000 Personen eine Altersrente.
Eine staatliche Arbeitslosenversicherung gab es nicht. Gegen Arbeitslosigkeit versicherten seit den 1890er Jahren einzelne Gewerkschaften ihre Mitglieder. Während hinsichtlich der anderen existenziellen Risiken – Unfall, Krankheit, Invalidität und Alter – seit den 1880er Jahren ein breiter gesellschaftlicher Konsens zur Intervention herrschte, traf dies auf das Problem der Arbeitslosigkeit nicht zu.
Die Versicherungsleistungen waren kein willkürlich gewährtes Almosen, sondern entsprangen einem Rechtsanspruch, wenngleich dessen Realisierung mit vielfachen Hürden verbunden war. Tendenziell wurde der Versicherungsanspruch auf größere Kreise der Bevölkerung ausgeweitet. Die originäre Zielgruppe waren vor allem qualifizierte Facharbeiter, die von den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie ferngehalten werden sollten.
Die Versicherungen für Arbeiter hingegen haben letztlich im Bedarfsfall die Not lediglich lindern, jedoch nicht beseitigen können. Zwar waren diese Versicherungen zu ihrer Entstehungszeit, international betrachtet, ein Fortschritt, konnten aber oftmals – besonders über längere Zeiträume hinweg – ein Leben auf dem Niveau des Existenzminimums nicht garantieren, geschweige denn eine Familie versorgen, wenn der oftmals alleinverdienende Mann durch Krankheit, Unfall oder Tod ausfiel.
Die aus der Sicht der Arbeiterschaft ungenügende Absicherung im Bedarfsfall und die unzähligen Schikanen gegenüber den Anspruchstellern von Versicherungsleistungen waren ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt der Sozialdemokratie, die im Versicherungswerk prinzipiell die Fortschreibung sozialer Ungleichheit zu Lasten der Arbeiterschaft kritisierte. Zudem wurden die Beiträge als Lohnkürzung empfunden. Die Sozialdemokratie wollte selbstverwaltete, freie Hilfskassen. Ferner sollte sich der Staat aus den Arbeitskämpfen einer zunehmend effektiver organisierten Arbeiterbewegung heraushalten und nicht die Unternehmerseite durch repressive Gesetze, Polizei und Militär unterstützen. Trotz der berechtigten Kritik und fundamentalen Ablehnung der staatlichen Sozialpolitik wirkte die Sozialdemokratie auf allen Ebenen konstruktiv für einen Ausbau der Versicherungen mit. 1927 konnte schließlich eine Arbeitslosenversicherung eingeführt werden.
1889 – Beschluss, den 1. Mai als internationalen Feiertag für die Arbeiterschaft auszurufen
Vom 14. bis 20. Juli 1889 fand in Paris, 100 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille 1789 und dem Beginn der Französischen Revolution, ein Internationaler Arbeiterkongress statt, auf dem die II. Internationale gegründet wurde. Die rund 400 Teilnehmenden kamen überwiegend aus Europa, aus Argentinien und den USA. Sie gaben Berichte über die soziale und wirtschaftliche Situation in den einzelnen Ländern und dem Entwicklungsstand der jeweiligen sozialistischen Bewegungen. Themenschwerpunkte waren: Frieden und die Abschaffung stehender Heere im Kontext einer „allgemeinen Volksbewaffnung“, Möglichkeiten zur rechtlichen Gestaltung des Arbeitsschutzes und einer internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung sowie Möglichkeiten der Kontrolle großer und kleiner Unternehmen im Zusammenhang mit bestehenden Gesetzen. Ein weiterer zentraler Punkt der Erörterungen war die Frage der „Arbeitszeit“ und des „Normalarbeitstages“, außerdem Aspekte der Tag- und Nachtarbeit, der Feiertags- und Sonntagsarbeit und der Arbeitszeit für Frauen, Jugendlichen und Kinder.
Neben den Resolutionen zum Frieden als oberster Voraussetzung jedweder Emanzipation der Arbeiterschaft und der Abschaffung der stehenden Heere wurden Resolutionen zum Achtstundentag, Kampf um demokratische Grundrechte, Verbot der Kinderarbeit und Regelungen zum Schutz von Jugendlichen und Frauen verabschiedet.
Von herausragender Bedeutung war der Beschluss, in den folgenden Jahren den 1. Mai als internationalen Aktionstag zur Verwirklichung des Achtstundentages und weiterer arbeitspolitischen Forderungen zu begehen. Die Idee der „Maifeier“ war geboren.
In den folgenden Jahrzehnten wuchs die internationale Bewegung, jedoch war die Durchführung der jeweiligen Aktionen generell mit hohen Risiken für die Akteure und Organisationen verbunden. Die nationalen, länderspezifischen und regionalen Rahmenbedingungen waren höchst unterschiedlich. Ebenso heterogen waren die Reaktionen vonseiten der Unternehmer und staatlicher Instanzen. Diese umfassten ein Repertoire von Duldung bis gewaltsamer Ablehnung, von Aussperrungen, „schwarzen Listen“ und Berufsverboten, (Massen-) Entlassungen, dem massiven Einsatz von Polizei und Militär, Gefängnisstrafen und bis Ausweisungen; Verletzte und Todesopfer waren zu beklagen.
Dennoch war in Paris der Grundstein für eine der wichtigsten internationalen sozialpolitischen Initiativen gelegt. In Deutschland wurde nach dem Ersten Weltkrieg mit millionenfachem Tod und unsagbarem Elend im Zuge der Novemberrevolution der Achtstundentag per Anordnung durch den Rat der Volksbeauftragten in Berlin am 23. November 1918 eingeführt. Bereits am 14. November 1918 wurde der Achtstundentag per Gesetz und das erstmals in Deutschland in Gotha eingeführt.
1891 – Das Erfurter Programm
1890 endete das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, besser bekannt als Sozialistengesetz, das seit 1878 das legale Handeln der SAP verbot – allerdings nicht die Kandidatur von Sozialdemokraten zu den Wahlen. Auf ihrem Parteitag in Halle 1890 hatte sich die Partei in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umbenannt und erreichte bei den Reichstagswahlen mittlerweile fast 20 Prozent der Wählerstimmen. Trotz staatlicher Verfolgung und Unterdrückung einerseits und Ausgrenzung aus der bürgerliche Mehrheitsgesellschaft als „Reichsfeinde“ andererseits.
In den Jahren seit dem Gothaer Parteitag 1875 hatte sich die Partei stark gewandelt. Linksliberale Positionen und solche der bürgerlichen Arbeiterpolitik waren an den Rand gedrängt worden. Stattdessen war der Marxismus entstanden und hatte sich in der Mitgliedschaft, v. a. aber bei Parteiführern und -intellektuellen durchgesetzt. Kritische Positionen wie sie von kooperationsbereiten Parlamentariern oder deren Kritikern vertreten wurden, waren bezogen auf das Programm eher randständig.
Nirgendwo sonst spiegelte sich dieses Faktum so wider wie im neuen Parteiprogramm, das im Oktober 1891 im preußischen Erfurt beschlossen wurde.
Es zerfiel in zwei Abschnitte. Der erste beinhaltete eine Analyse der Gegenwartsgesellschaft und ihrer Entwicklungstendenzen und der zweite den aktuell politischen Forderungskatalog:
- das allgemeine, gleiche direkte Wahlrecht für alle über 20 Jahre alten Reichsangehörigen „ohne Unterschied des Geschlechts“ für alle Wahlen
- die direkte Gesetzgebung durch das Volk
- die Selbstverwaltung der Kommunen
- die Abschaffung aller Gesetze, die Frauen diskriminieren
- die Erklärung der Religion zur Privatsache
- die Abschaffung des Schulgelds
- eine progressive Einkommens- und Vermögenssteuer
- das Verbot der Kinderarbeit
- die Einführung des 8-Stunden-Arbeitstags
Jeder dieser einzelnen Forderungen verweist auf jene sozialen und politischen Verhältnisse des Kaiserreichs, die dieses als eine pseudodemokratische, obrigkeitsstaatliche Klassengesellschaft ausweisen, in der die lohnabhängigen Klassen ökonomisch ausgebeutet und politisch unterdrückt werden. Die programmatischen Forderungen mobilisierten Abgeordnete, Mitglieder und Wähler.
Die Analyse der Gegenwartsgesellschaft, die diesem Forderungskatalog vorangestellt ist, geht davon aus, dass sich die gesellschaftlichen Widersprüche sich derart zuspitzen werden, dass nur eine neue sozialistische Gesellschaft das Ziel des sozialdemokratischen Handelns sein kann:
Das Erfurter Programm, überwiegend verfasst von Eduard Bernstein und Karl Kautsky, den damals führenden marxistischen Parteitheoretikern, steht am Beginn des rasanten Aufstiegs der SPD zur größten Partei in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Friedrich Engels, der Nachlassverwalter seines Freundes Karl Marx wird nach dessen Tod 1883 immer mehr zu einem Mentor der SPD. Zusammen mit Kautsky wird er Marx‘ Schrift „Randglossen zum Programm der Arbeiterpartei“ und dessen Briefwechsel mit Liebknecht und Bracke im Vorfeld des Erfurter Parteitags veröffentlichen, nicht zuletzt um dem oben ausführlich zitierten marxistischen Kern des Erfurter Programms zum Durchbruch zu verhelfen.
Das Erfurter Programm wird dreißig Jahre das Parteiprogramm des SPD sein. In diesen dreißig Jahren wird sich der dynamische Optimismus des Programms, dessen klare Zielstellung und der damals scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der Sozialdemokratie aber nicht bewahrheiten. 1921 ist die Partei gespalten, selbst innerlich zerrissen, weit davon entfernt, die politische Macht erobert zu haben und von Konkurrenten umgeben, die jeweils für sich beanspruchen, die wirklichen Vertreter der Arbeiterbewegung zu sein.
1896 – Gothaer Parteitag
Trotzdem das „Sozialistengesetz“ zum Jahresende 1890 ausgelaufen war, stand die organisierte Sozialdemokratie insgesamt unter einem erheblichen Repressionsdruck, der sich auf Länderebene aufgrund spezifischer „Vereinsgesetze“ und Durchführungen unterschiedlich äußerte. Neben dem rasanten sozioökonomischen Wandel wurde auf der großen Bühne das Weltmachtstreben forciert. Der nationalistisch-imperiale Taumel blieb bei den herrschenden Eliten ungebrochen.
Im Dezember 1894 brachte die Reichsregierung den „Entwurf eines Gesetzes, betr. Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse“ im Reichstag ein. Diese sogenannte „Umsturzvorlage“ sollte selbst willkürliche Maßnahmen gegen missliebige Meinungsäußerungen und Personen legalisieren und jegliche Opposition ersticken. Neben der Sozialdemokratie mobilisierten liberal-demokratische Kräfte, Bauernverbände und Intellektuelle gegen diesen Angriff von „oben“ mit Massenprotesten, Versammlungen und Petitionen „von unten“. Durch diesen massiven Widerstand scheiterte das Gesetzesvorhaben im Mai 1895 im Reichstag. Ein weiterer Angriff erfolgte im November auf Initiative des preußischen Innenministers Ernst Matthias von Köller (der sogenannte „Köller-Coup“). Bereits im September hatte er vier Gesetzesentwürfe zur Verschärfung des ohnehin repressiven preußischen Vereinsrechts vorgelegt, nunmehr wurden die Räume des SPD-Parteivorstandes und deren Mitglieder ebenso wie die der Redaktion des „Vorwärts“ durchsucht. Am 29. November 1895 wurden der SPD-Parteivorstand und weitere sozialdemokratische Organisationen polizeilich ‚geschlossen‘. In Sachsen erfolgte trotz vorangegangener massiver Proteste am 27. März 1896 die Einführung des Dreiklassenwahlrecht nach preußischem Vorbild. Die männlichen Wählergruppen wurden nach dem jeweiligen Steuerbetrag eingeteilt, was die wohlhabenden „Klassen“ eklatant gegenüber den unteren „Klassen“ bevorteilte. Die Sozialdemokratie bekämpfte vehement dieses Wahlsystem, das in Preußen erst im Zuge der Novemberrevolution 1918 abgeschafft wurde.
Vor dem Hintergrund andauernder Repressionen gegen die Sozialdemokratie und andere demokratische Kräfte fand der Gothaer Parteitag vom 11. bis 16. Oktober 1896 statt. Zum Arbeiterschutz referierte Emanuel Wurm und zur Vorbereitung der Maifeier 1897 Alwin Gerisch. August Bebel berichtete über den Internationalen Gewerkschaftskongress, der vom 17. Juli bis 1. August in London staatgefunden hatte. In einer fulminanten und wegweisenden Rede sprach Clara Zetkin zur Frauenagitation. Ihre Rede endete mit den Worten: „Mit uns das Volk, mit uns der Sieg!“ Nach einem Initiativantrag beschloss der Parteitag, „die Rede der Frau Zetkin wird gedruckt und als Broschüre unentgeltlich verteilt“. Ignaz Auer sprach zu Fragen der Organisation. Ferner wurde intensiv über das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften diskutiert. Im Ergebnis sollten weiterhin mit entsprechender Aufgabenverteilung beide Organisationsformen eng zusammenarbeiten. Zum nahenden 1. Mai 1897 sollte überall, soweit es möglich war, eine „Arbeitsruhe“ gehalten sowie Versammlungen und Kundgebungen durchgeführt werden. Engagement und Beteiligung wurden zur ehrenden Pflicht. Ein neuer Parteivorstand konnte allerdings wegen des nunmehr sogenannten „Köller-Coups“ vom vergangenen November nicht gewählt werden. Die SPD-Reichstagsfraktion und ein eingesetzter Ausschuss mussten aufgrund des polizeilichen Verbots übernehmen.
Der Obrigkeitsstaat und die Repressionen hatte keinen entscheidenden Sieg erringen können. Es wurde weitergekämpft: Sozialdemokratische Partei und freie Gewerkschaften, international und national, Frauen und Männer, solidarisch und vereint.
Frauen in die Politik – Der Kampf um die politischen Rechte der Frau
Der Kampf um das Frauenwahlrecht wurde sowohl von der proletarischen, als auch von Teilen der bürgerlichen Frauenbewegung geführt. 1888 gründete Minna Cauer den Verein „Frauenwohl“ in Berlin, der u. a. auch das Frauenstimmrecht forderte. Das heißt, dass Frauen wählen sollten, aber noch nicht, dass sie sich selbst zur Wahl stellen konnten. Der überwiegende Teil der bürgerlichen Frauenbewegung lehnte allerdings zunächst das Frauenwahlrecht ab. Erst 1902 nahm der in Berlin 1894 gegründete Bund deutscher Frauenvereine die Wahlrechtsfrage in sein Programm auf. Im selben Jahr wurde von Minna Cauer, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann der „Deutsche Verein für Frauenstimmrecht“ ins Leben gerufen. Der Verein und seine Vorkämpferinnen wurden innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung zumeist als „zu radikal“ eingestuft.
Anders die sozialdemokratische Bewegung: Auch wenn es Diskussionen innerhalb der Partei über Frauenrechte gab, war die SPD die erste Partei Deutschlands, die die Forderung nach dem Frauenwahlrecht konsequent verfolgte. Auf dem Parteitag der SPD 1891 in Erfurt wurde die Forderung nach der Gleichberechtigung der Frau ins Parteiprogramm aufgenommen.
Fünf Jahre später auf dem Parteitag in Gotha löste Clara Zetkins Referat die Grundsatzdiskussion über die Frauenfrage und Sozialdemokratie aus. Im Ergebnis sollte die Arbeit unter den Frauen intensiviert und finanziell ausgestattet werden. Nicht alle männlichen Parteimitglieder unterstützten das Anliegen. Sie waren gleichgültig oder lehnten eine Beteiligung der Frau an der Politik ab. Dennoch setzten sich die Vorschläge Zetkins im Laufe der Zeit immer mehr durch. Frauen streikten, warben für die SPD, kämpften für ihre Rechte, beteiligten sich und unterstützten die Männer. Auch besuchten sie unerlaubt, aber im Gothaer Herzogtum geduldet, sozialdemokratische Versammlungen.
Mit dem Reichsvereinsgesetz vom 15. Mai 1908 wurde Frauen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen und der Besuch von politischen Versammlungen gestattet. Das Gesetz löste auch die unterschiedlichen Vereinsgesetze der Kleinstaaten auf. Konnte z. B. im Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha der SPD Wahlverein und Ortsvereine legal arbeiten, waren diese im Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen verboten.
Am 19. März 1911 wurde in Deutschland erstmals der Internationale Frauentag gefeiert. Dieser wurde für die SPD zum wichtigen Instrument zur Forderung nach dem Frauenwahlrecht.
Ein Jahr später fand in Gotha die X. Generalversammlung des Bundes deutscher Frauenvereine (BDF) in Gotha statt. Das Frauenwahlrecht wurde in das Programm des Bundes aufgenommen. Der Beschluss wurde 1917 auf der Generalversammlung in Erfurt noch einmal bekräftigt und aktiv zumindest für das kommunale Frauenwahlrecht geworben. Der evangelische Frauenbund trat daraufhin aus Protest aus dem BDF aus.
Im Gothaer Landtag trat vor allem die SPD für das Frauenwahlrecht ein. Es gab aber auch andere Initiativen. 1910 übergaben 232 selbständige Frauen ein „Gesuch der Einwohnerinnen der Stadt Gotha um Abänderung des Gemeindegesetzes“ den Landtag. Die Anfrage wurde vor allem von den bürgerlichen Parteien abgelehnt. 1912 und 1914 gab es erneute Petitionen, die 1060 bzw. 1700 Gothaer Frauen und Männer unterzeichnet hatten. Der bürgerliche Frauenfortbildungsverein reichte Anfang 1918 ein Gesuch für die „Gewährung des Gemeindewahlrechts für die Gothaischen Frauen“ ein. Es folgte erneut die Ablehnung der bürgerlichen Parteien und die Unterstützung der SPD. Solche Petitionen wurden auch in anderen Thüringischen Herzogtümern verfasst.

Quelle: Wikicommons, Link
1901 – Arbeitersekretariate
Von besonderer Bedeutung für die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft und den Aufbau einer Massenbewegung waren die gewerkschaftlichen Arbeitersekretariate. Das erste seiner Art wurde 1894 in Nürnberg durch das gewerkschaftliche Ortskartell eingerichtet. Die Initiatoren waren Karl Grillenberger und Martin Segitz.
Vor der Jahrhundertwende gab es insgesamt sieben Sekretariate, danach wuchs die Anzahl stetig bis auf 130 Sekretariate im Jahr 1914. Ratsuchende fanden kostenfrei nicht nur Hilfe und Unterstützung bei betrieblichen Angelegenheiten und Konflikten, sondern auch zu Mietfragen, Versicherungsfragen (Alter und Rente, Invalidität, Unfall, Krankheit) und Aspekten des politischen Engagements (Vereins- und Versammlungsrecht).
Angesichts einer generell komplizierten Rechtslage und Gesetzessprache in Kombination mit der Außenseiterstellung weiter Teile der Arbeiterschaft waren die Sekretariate von enormer Bedeutung, wobei den sowohl gewerkschaftlich organisierten als auch nicht organisierten Hilfesuchenden mit Rat und Tat zur Seite gestanden wurde. Bei gerichtlichen Auseinandersetzungen wurden Anwälte gestellt. Im Zeitraum 1901 bis 1914 betrug die Zahl der Hilfesuchenden insgesamt über 6 Millionen Personen. Es wurden annähernd nahezu 6,5 Millionen Auskünfte erteilt.
In Gotha gab es zudem eine Besonderheit. Hierzu schrieb der sozialdemokratische Landtags- und Reichstagsabgeordnete Wilhelm Bock in seiner Autobiographie „Im Dienste der Freiheit“ über seine Initiative im Gothaischen Landtag:
„Am 29. März 1901 beantragte ich, ein Arbeitersekretariat zu errichten, Geschäftsräume, Inventar und eine Sammlung der Gesetze dem Arbeitersekretariat zur Verfügung zu stellen, und außerdem eine alljährliche Subvention von 2 000 Mark ihm zu gewähren. Das Arbeitersekretariat sollte in allen Angelegenheiten der Sozialgesetzgebung unentgeltlich Auskünfte erteilen und Schriftsätze anfertigen. Auf Ersuchen der Behörden und aus eigener Initiative sollte es Gutachten und Berichte über alle, die Arbeiter betreffenden Verhältnisse erstatten. Nach einer eingehenden Begründung unseres Antrages wurde er einstimmig angenommen. Der Erfolg war nicht nur ein prinzipieller, sondern auch ein praktisch bedeutsamer. Die Wahl des Sekretärs erfolgte durch eine Kommission, die zu den Freien Gewerkschaften und dem Gothaer Gewerbeverein gebildet war. Während des Krieges wurde aus Sparsamkeitsrücksichten leider das Arbeitersekretariat geschlossen. Auf unsere Anregung wurde auch ein staatliches Krankenhaus errichtet, Volksvorstellungen im Hoftheater gegen das bescheidene Eintrittsgeld von 40 Pfennig veranstaltet. Aus zahlreichen Gesetzen wurden die reaktionären Bestimmungen auf unseren Antrag hin gestrichen.“
In Gotha erhielt das Arbeitersekretariat also eine Unterstützung durch den Staat.
August Bebel: „Antisemitismus als Sozialismus der dummen Kerls“
1906 erschien die Schrift August Bebels „Sozialdemokratie und Antisemitismus“. Schon auf dem Parteitag in Köln 1893 hatte Bebel in einer Rede über das Verhältnis von SPD und Antisemitismus festgestellt, dass die Anfeindung gegen die Juden von bestimmten Parteien benutzt wird, um ihre Machtposition auszubauen. Die Gründe für Antisemitismus waren nach Bebel ökonomische Krisen, soziale Abstiegsbewegungen, Klassenunterschiede und Marktkonkurrenz. Seine Broschüre galt fortan als Richtlinie für die Arbeiterbewegung mit dem Umgang mit Antisemitismus und dessen Ablehnung.
Im 19. Jh. war die Sozialdemokratie der Meinung, dass die unteren Schichten, die dem Antisemitismus folgten, selbständig erkennen würden, dass der Kapitalismus Schuld an ihrer Misere sei und nicht der „jüdische Kapitalist“. Dann würden sie Anhänger der SPD. 1890 schrieb Friedrich Engels, dass der Antisemitismus:
„eine Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft [sei] … und das Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur.“
Grundsatz der SPD war, dass Religion Privatsache sei. Außerdem gab es in der Partei viele Politikerinnen und Politiker mit jüdischen Wurzeln, die allerdings oft Intellektuelle waren und so die auf Ablehnung bei der „einfachen“ Arbeiterschaft stießen.
Auch wenn die offizielle Linie der Partei war, gegen Antisemitismus aufzutreten, gab es in der Arbeiterschaft auch immer Judenhass. Einige Politiker der Arbeiterparteien verwendeten in Debatten antisemitische Stereotypen. Viele jüdische Menschen hatten von der Industrialisierung profitiert und luden damit den Hass der Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklung auf sich. Vielen Juden gelang der Aufstieg ins Bürgertum, sie waren also der „Klassenfeind“.
Das Gros der Arbeiterschaft aber achtete ihre Funktionäre mit jüdischen Wurzeln, wie etwa Paul Singer (2. Vorsitzender der SPD), und trat vehement gegen Antisemitismus auf.
Bebel war also wie auch in der Frauenbewegung ein Vorreiter und Verfechter der Menschenrechte für die Juden in Deutschland.
1907 – Zur Reichstagswahl und zum deutschen Kolonialismus
Mit dem formalen Auslaufen des „Sozialistengesetzes“ 1890 waren die Repressionen gegen die Sozialdemokratie keineswegs beendet. Immer wieder wurden vielfältige neue Initiativen seitens der herrschenden Eliten gestartet, um die emanzipatorische Arbeiterbewegung zu behindern und zu zerschlagen. Dennoch wuchsen stetig der Organisationsgrad und die Mitgliederzahlen in den sozialdemokratischen Organisationen. Ebenso wuchsen die Erfolge bei den Wahlen zum Deutschen Reichstag. Der Zuschnitt der Wahlkreise und das Mehrheitswahlrecht benachteiligten erheblich die Sozialdemokratie. Zur Reichstagswahl 1890 erzielte die vereinte Sozialdemokratie mit 19,8 % und 35 Mandaten ihr bis dahin bestes Ergebnis, 1903: 31,7 % und 81 Mandate. 1907 wurde die Erfolgsserie bei den Wahlen kurzfristig unterbrochen. Diese Wahl war in mehrfacher Hinsicht ein Fanal: Der Wahlkampf seitens des politischen Establishments wurde mit einer bis dahin nie dagewesenen Härte, Hetze und Diffamierung geführt. Landauf und landab wurde die Sozialdemokratie an den Pranger gestellt. Trotzdem wurden 28,9 % der Wählerstimmen erreicht, jedoch gingen fast die Hälfte der Mandate verloren, da konservativ-reaktionäre und nationalliberale, nationalistische und antisemitische Gruppierungen Wahlbündnisse gegen die sozialdemokratischen Kandidaten schmiedeten.
Zum Hintergrund: Generell verortete sich die emanzipatorische Arbeiterbewegung unter dem „Banner der Humanität“: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Das konsequente Eintreten für Menschenrechte, eine soziale Demokratie, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern war nicht nur auf die eigene Klasse mit den spezifischen Schichten und Milieus beschränkt, sondern die Befreiung der Arbeiterklasse sollte zugleich die generelle Abschaffung von Unterdrückung, Not und Ausbeutung für die Menschheit bedeuten. Konsequent wurden daher die Militarisierung und exorbitante Rüstungsausgaben im Deutschen Kaiserreich bekämpft. Gleiches traf für die brutale Kolonialpolitik zu.
Die nationalistischen und chauvinistischen Eliten des Kaiserreichs sahen sich vor allem gegenüber Großbritannien und Frankreich bei der Aufteilung der Welt als „zu kurz“ gekommen. Nach der Reichseinheit, den zuvor gewonnenen Kriegen gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1871) und dem rasanten wirtschaftlichen Aufschwung sah man sich als Weltmacht. Ebenfalls wollte man einen „Platz an der Sonne“ mit umfangreichem Kolonialbesitz. 1884/85 wurden in Afrika mit den sog. „Schutzgebieten“ in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika (heute Tansania) und im Pazifik Kolonien geschaffen. Die einheimische Bevölkerung wurde extrem ausgebeutet und versklavt. Es kam zu verzweifelten Aufständen der Herero und Nama, welche abwertend und rassistisch als „Hottentotten“ diskriminiert wurden, in Deutsch-Südwestafrika (1904-1908) und in Deutsch-Ostafrika (Maji-Maji-Aufstand, 1905-1907). Mit äußerster Brutalität wurden die Aufstände niedergeschlagen. Es waren die ersten Völkermorde im 20. Jahrhundert.
Vor diesem Hintergrund fanden die Reichstagswahlen 1907 statt. Zuvor, im Dezember 1906, hatte Kaiser Wilhelm II. den Reichstag aufgelöst, da sich keine Mehrheit zu einer weiteren deutlichen Erhöhung der Militär- und Rüstungsausgaben und der Fortführung der bisherigen Kolonialpolitik fand. Die Fraktionen der SPD und der katholischen Zentrumspartei lehnten weitere Erhöhungen ab. Bereits seit den 1890er Jahren hatte die SPD im Reichstag, allen voran August Bebel, die Militär- und Kolonialpolitik scharf kritisiert und die damit verbundenen Verbrechen skandalisiert. Für die nationalistischen Eliten war die Sozialdemokratie daher der gefährlichste „Feind“ im eigenen Land der größenwahnsinnigen imperialen Träume.
Unbeirrbar und mutig hielt das Gros der Sozialdemokratie das „Banner der Humanität“ hoch.